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Das Wohnen im Alter neu denken

06.04.2023

Mehr soziale Betreuung statt mehr Altersheime: Wie soll das gehen? Darüber haben wir uns mit Simon Stocker unterhalten, dem Leiter der Fachstelle Alterspolitik bei Gerontologie CH. Dieser Fachverband entwickelt Alterskonzepte für Gemeinden, Organisationen und Kantone.

Herr Stocker, Sie beschäftigten sich schon früh mit Altersfragen. Das ist doch eher ungewöhnlich, machen doch viele junge Menschen einen Bogen um dieses Thema.

Ich habe nach der Matura zunächst ein Soziologiestudium begonnen, mich dann aber für einen anderen Weg entschieden: Ich absolvierte ein Pflegepraktikum. Da hat mich das Thema gepackt, vor allem auch wegen der lebensfrohen Sicht vieler älterer Menschen, mit denen ich in Kontakt war.

Sie sind früh in die Politik eingestiegen und kandidieren jetzt für den Ständerat. Während 8 Jahren waren Sie als Schaffhauser Stadtrat für Altersfragen zuständig. Haben Sie da nicht plötzlich «von oben regiert»?

Nein, ich habe ein anderes Führungsverständnis. Ich wollte nicht in einem Elfenbeinturm aufsteigen, sondern den direkten Kontakt mit den Menschen behalten. So habe ich beispielsweise Besuche in Altersheimen immer mit einem Rundgang bei den Bewohnerinnen und Bewohnern begonnen. Solche Rundgänge, auch in Quartieren, haben nicht nur viel Goodwill geschaffen. Der Austausch mit den direkt Betroffenen hat mir auch gezeigt, dass wir die Wohnangebote mehr differenzieren sollten, einerseits in den bestehenden Heimen, anderseits auch für die ältere Bevölkerung in den Quartieren.

Was meinen Sie damit?

Für ältere Menschen, die ihr Leben mit etwas externer Hilfe noch selbständig meistern könnten, ist der Eintritt in ein Heim selten der gewünschte Weg. Doch oft fehlt es an altersfreundlichem Wohnraum. Neubauten sind besser als der alte Wohnungsbestand. Aber es gibt in der Schweiz zu wenig geeignete Kleinwohnungen, die für Seniorinnen oder Senioren mit bescheideneren Einkommen zahlbar sind. Deshalb treten viele in ein Heim ein, obwohl das für sie selbst eine Notlösung und für die Allgemeinheit die teurere Variante ist.

Und was kann man dagegen tun?

Wir müssen das Alterswohnen neu denken, und zwar auf allen Ebenen. Beim Bund geht es um die Ergänzungsleistungen zur AHV/IV (EL). Die gibt es bisher nämlich nur für Personen in Alters- und Pflegeheimen, deren Einkommen nicht ausreicht. Jetzt wird diskutiert, die EL auch für betreute Alterswohnformen einzusetzen.

Führt der Ruf nach dem Bund zum Ziel?

Nein, die konkreten Probleme müssen auf den unteren Ebenen gelöst werden. Der Bund ist dafür zu schwerfällig, hat aber eine wichtige Rolle als Impulsgeber für die Kantone. Diese und besonders die Gemeinden sind angesichts der alternden Bevölkerung stark gefordert. Dabei steht (mit Ausnahme der Romandie) nicht der Zubau weiterer Heimplätze im Vordergrund, sondern die Unterstützung älterer Personen in ihren eigenen Wohnungen durch ambulante Dienste wie Spitex oder Freiwilligendienste.

Und woher nehmen Sie all die Freiwilligen?

Ich bin überzeugt, dass es da ein grosses Potenzial gibt. Aber jemand muss die «Caring Communities» in den Quartieren und Dörfern aufbauen. Damit sie die Leute auch mittragen, braucht es von der Öffentlichkeit initiierte oder zumindest unterstützte Strukturen: Beispielsweise eine Anlaufstelle mit einem Kaffee, wo Nachbarschaftshilfe und alle sonstigen Angebote und Aktivitäten rund um Altersfragen zusammenlaufen.

Neu denken muss man dabei auch die Freiwilligenarbeit. Früher wurde sie von Vereinen getragen. Doch heute will sich kaum mehr jemand für solche «Ämtli» hergeben. Dabei fehlt es nicht an Personen, die sich für zeitlich befristete Projekte zur Verfügung stellen, wenn sie ihre Fähigkeiten einbringen können. Soziales Engagement ist immer noch ein weit verbreitetes Grundbedürfnis. Doch die Selbstorganisation der Caring Community muss von öffentlichen Stellen unterstützt und koordiniert werden. Da müssen die Gemeinden einiges gezielter machen als in früheren Jahren.